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Chaos Communication Congress '90

Der alljährliche Chaos Communication Congress in Hamburg vom 27. bis 29. Dezember erlebte sein verflixtes siebtes Jahr. Spät war er angekündigt und fand erstmals ohne Motto statt. "Vergessen" war die Erklärung dafür auf der Eröffnungsveranstaltung. Nach dem Prinzip
Kinder an die Macht
war die Projektleitung diesmal stark verjüngt. Mit rund 350 TeilnehinerInnen waren es zwar nicht so viele wie die letzten Jahre. Doch das sorgte für deutlich weniger Hektik und mehr familiäre Atmosphäre. Auch an das leibliche Wohl war gedacht: statt gaumenfeindlicher Matschburger mit brauner Prickelsoße gab es im Chaos-Cafe neben Kaffee auch Yogitee und gut zu futtern. Nur die Fleischdosis war beim Lammgeschnetzelten etwas zu homöopathisch.

Erstaunlich war die Anzahl der Gernerationen auf dem Kongreß. Sie reichte vom kleinen Mädchen, das im Chaosarchiv auf einem Stuhl vor dem Kopierer stand, die Patschhand auf die Glasplatte legte und ebenso selbständig wie bewußt den COPY-Knopf drückte, bis hin zu ergrauten Rentnern. Letztere waren jugendlich, als am 1.3.1936 die ersten öffentlichen Fern-SEH-Sprechstellen zwischen Berlin und Leipzig eröffnet wurden. Heute modern ist Satellitenkommunikation. Auf dem Dach des Eidelstedter Bürgerhauses stand dann auch provokativ anmeldefrei eine Schüssel für TV- und Radioempfang. Es ist der Post nicht gelungen, irgendwelche fernmeldewindigen Paragraphen in den Himmel zu hängen, um den Empfang zu behindern. Leider gestaltete sich die himmlische Suche nach Astra auf 19,2 Grad Ost als schwierig. Dafür war anstelle des schwachen AMSTRAD-Tuners der empfehlenswerte Sat-Empfänger von TECHNISAT mit frei einstellbaren Tonunterträgern aufgebaut. Daumenregel für Sat-Anlagen: ein Astra-Tuner taugt nur dann, wenn er auch den Tonunterträger von RadioRopa, den deutschsprachigen Rund-Um-Die-Uhr-Nachrichtensender, empfangen kann.

Doch das wichtige am Kongreß ist nicht die passive Aufnahme von Information, sondern aktiver Austausch, der frei flottierende Flurfunk und die Kaffeehausgespräche. Dies war besonders für die ausländischen Teilnehmerlnnen (überwiegend aus Europa westlich von Oder und Neiße) wichtig, da die meisten Vorträge und Diskussionsveranstaltungen auf deutsch liefen. Ein Thema war Postrecht und Geschichte. Akteneinsicht nach Ablauf historischer Spertfristen ergab einiges interessante. So vertrat schon vor Thurn und Taxis der Bischof von Utrecht juristisch den Wind, das himmlische Kind, in seiner Diözese und kassierte von den Mehlboxen - damals Windmühlen genannt - Monopolabgaben.

Vom Verbot der badischen Metzger-POSTen, die vor 600 Jahren Briefe, Geld und Nachrichten zum nächsten Viehmarkt mitnahmen, durch einen erblichen Monopolbetrieb, der Touren machte und dafür Taxe kassierte, ging es über den Brieftransport durch die Einbecker Brauerei vor dem 30jährigen Krieg im Schnellvortrag bis zum freien Satellitenempfang dank AUTRONIC-Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und dem EG-mäßig überholten bundesdeutschen Modemreinheitsgebot der Saarbrücker Fernmeldewindprüfanstalt.

Die undeutschen Modems standen auf dem Kongreß gleich neben an im Hackcenter im Auge des Orkans. Dort wurde ständig telefoniert, an den Netzen gestrickt und schwer erklärliches gelernt. Die Post ist inzwischen gewohnt, daß zwischen Weihnachten und Neujahr im ansonsten gemächlichen Bürgerhaus immer wieder ein Dutzend Leitungen geschaltet werden müssen. Diesmal kappte die Projektleitung während des Kongresses nur einmal alle Leitungen auf einen Streich, weil einer der Gebührenzähler kaputt war und durchdrehte. Da wurden die kaufmännischen Sektoren der Hirnrinde einiger Hacker aktiv...

Handfeste Facts gab es bei DFÜ im Umweltschutz. Der grüne Damm gegen DV-Vorurteile wird vermehrt durch Schleusen ersetzt. M.ensch U.mwelt T.echnik machte MUT mit der Einschätzung, grüne Ignoranz verändere sich in Neugier. Weiter waren DFÜ und Medienarbeit sowie Psyche und Cornputer ebenso Themen wie Datendirektanschluß ans Hirn. Diesmal reisten auch CYBERPUNKS aus Italien an. Und die Staatsaufsicht, für die es eigene Eintrittskarten gab, kam thematisch mit dem G10-Gesetz - der Mailboxkontrolle durch den Verfassungsschutz - und die neue Geheimbehörde für Sicherheit in der Informationstechnik ins Gerede.

Die Kontrolle ist geregelt, dagegen fehlen hier zulande die Freiheitsrechte, wie sie in den USA vergleichsweise der FREEDOM OF INFORMATION ACT und auch z.B. die Niederlande gewähren. Als wichtiger zu fördernder Ansatz dazu wurde aus den Kulissen der Macht das leider noch nicht beschlossene "Gesetz zur Förderung der Informationsfreiheit" aus Berlin vorgestellt. Das Recht der Bürgerlnnen auf Akteneinsicht kann eher Bundesland für Bundesland als bundesweit durchgesetzt werden. Schon die Junge Union aus Berlin erstellte vor über zehn Jahren erste Entwürfe dazu, Stichwort Bauskandal. Noch-Parlamentarierin Lena von der AL-Berlin erklärte, was in einer Akte eigentlich drin ist und lieferte konkretes aus den Bereichen Einwohnerverwaltung / Verfassungsschutz / Stasi / Dateihandling. Die "Erstreckung" der BRD gen Osten (Fachbegriff der Verwaltung) stößt hoffentlich in der Nachstasiära auf mehr Ansätze, ein Akteneinsichtsrecht für Jedermann zu verwirklichen. Auch dieser Vortrag ist auf Video mitgeschnitten und wird noch irgendwie ausgewertet; im ChaosArchiv mit über 100 Un-Ordnern gibt es dazu rund 100 Seiten Info, die hoffentlich bald wieder auftauchen (sind jetzt im Ordner CCC'90 Originale!). Nur in Hirnrinden aufgezeichnet wurden der Vortrag "Leibniz - Maschinenwelt und Netzwerke im 17. Jahrhundert" von Werner Künzel aus Berlin, die Diskussion zum Sozialversicherungsausweis und der Verdatung bei der Sozialbehörde sowie der Workshop für Häcksen "Feminines Computerhandling".

Kopiersessions gab es diesmal nicht nur im ChaosArchiv mit Papier, an Archimedes, Ataris und PC-Gurken, sondern auch von Magnetkarten fast aller automatenüblichen Sorten. Die Niederländer von der Zeitschrift HackTic hatten zu ihrem, auf einem Echtholzbrett festgeschraubten Magnetkartenleser ausreichend Plastikkarten mit aufgedrucktem HackTick-Logo dabei, sodaß sich Sicherheitskopien von allen drei üblichen Spuren ziehen ließen. Nur eine Mensakarte hatte ein unbekanntes Format... Auch ändern der Datensätze war leicht möglich; die Dokumentation der Datenspuren war in einer älteren HackTick auf englisch abgedruckt. Dem Reporter von BILD-Hamburg gelang es erst nach großen Mühen, den Magnetkartenleser zu, fotografieren, weil die Holländer BILD nicht mochten...

Zusammenfassen läßt sich der Kongreß eigentlich nicht. Da vieles parallel lief, war es garantiert unmöglich, alles mitzubekommen. Manches fehlt auch hier. Und viele Gespräche und Erfahrungen auf dem Kongreß brauchen - das ist die Erfahrung der letzten Jahre - eher Quartale als Tage, bis sie verdaut und umgesetzt werden.

Wer diesmal nicht dabei war und trotzdem an Ergebnissen interessiert ist, kann beim CCC, Schwencke-85, Hamburg 20 bei großzügiger Einsendung unbeleckter Briefmarken eine Diskette 3.5"/720KB oder 5.25"/36OKB bekommen mit dem, was schon während des Kongresses geschrieben wurde sowie einer geschrumpften Psycho-Diplomarbeit, die besagt, daß Computerfreaks auch nicht verrückter sind als andere Leute. Oder er wartet bis zur 10jährigen CCC-Bestandsfeier im Herbst in Berlin, weil bis dann - evtl. schon zur CeBit - ein Reader/Doku vom/über CCC'90 fertig sein könnte. Oder er kommt zum Chaos Communication Congress '91, wieder vom 27. bis 29. Dezember in Hamburg-Eidelstedt.

Wer sich aber jetzt schon dafür anmelden will, läuft Gefahr, daß das spätestens bis Dezember im diffus verwaltenden Chaos untergegangen sein wird. Das entspricht dem Resumee des Workshops für Akteneinsichtsrecht: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und wer zu früh kommt, den bestraft die Verwaltung.

wau

 

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